L. Fasol: Stadtgestalt und Stadtgesellschaft

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Titel
Stadtgestalt und Stadtgesellschaft. Identitätskonstruktionen in Winterthur, Luzern und Bern um 1900


Autor(en)
Fasol, Laura
Erschienen
Zürich 2020: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
ca. €48
von
Emil Erne

An Schweizer Universitäten sei Stadtgeschichte kein Schwerpunkt mehr, stellt Laura Fasol einleitend in ihrer an der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Luzern (Professoren Jon Mathieu und Daniel Speich Chassé) 2017 abgeschlossenen Dissertation fest. Die wichtigsten Schweizer Untersuchungen, von denen sie ausgeht, stammen aus den 1980er- und 1990er-Jahren. Städte seien ein Thema, das für die Schweiz als wenig zentral erachtet werde. Tatsächlich sind die meisten Schweizer Abhandlungen nicht vergleichend angelegt, sondern sind Geschichten einzelner Städte, was mit dem auf das lokale Interesse fokussierten Auftrag und der entsprechenden Finanzierung der Forschungs- und Publikationsprojekte zu tun hat.

Industrialisierung und Urbanisierung führten im 19. Jahrhundert zu massiven Veränderungen in den europäischen Städten. Ab 1850 erlebten auch die Städte in der Schweiz einen grundlegenden Wandel. Wirtschaftlich und bevölkerungsmässig erfolgte ein massives Wachstum, das sich städtebaulich auswirkte. Die Schwerpunkte innerhalb der Städte verlagerten sich, was Debatten und Konflikte auslöste und die Stadtgemeinschaften zur Reflexion über ihre Identität zwang. Die neue Stadtgestalt und die mentale Wahrnehmung der Stadt beeinflussten sich gegenseitig.

Es entstanden neuartige Stadttypen wie Industriestädte, Tourismusdestinationen, Verwaltungs- und Dienstleistungszentren. Die dabei erfolgten Konstruktionen von Stadtidentitäten untersucht die Autorin anhand dreier Beispiele: Winterthur, Luzern und Bern. Sie erörtert die Ziele und Abläufe dieser Findungsprozesse und analysiert inhaltliche Aspekte, die in allen Fällen von ausschlaggebender Bedeutung waren: das Verhältnis zur eigenen Geschichte, den Umgang mit der Modernisierung und die Hervorhebung der Natur.

In Winterthur propagierten die Behörden eine für das lokale und regionale Publikum bestimmte Selbstdarstellung, die eine positive Beurteilung der Modernisierung beinhaltete. Die Industrie erschien als das zentrale Element der Stadtidentität, nämlich als Ergebnis des hauptsächlichen Charakteristikums der ansässigen Bevölkerung: des Fleisses und der Produktivität. In den Stadtansichten wurden die modernen Stadtteile in den Vordergrund gerückt. Gegen die schmutzigen, engen, chaotischen Industriestädte des Auslands grenzte man sich ab.

War Winterthur das Beispiel einer fortschrittlichen Industriestadt, so präsentierte sich Luzern als Stadt des Tourismus. Die Vorstellungen und Erwartungen der Besucherinnen und Besucher prägten das Selbstbild, das die Einheimischen reproduzierten und weiterverbreiteten. Konstitutiv waren die Lage am See und die Aussicht in die Berglandschaft. Als grösste Sehenswürdigkeit kam die Kapellbrücke hinzu, welche die positiv imaginierte Vergangenheit Luzerns verkörperte. Als Folge der Modernisierung war der intensiv aufblühende Tourismus grundsätzlich unbestritten, Auseinandersetzungen gab es jedoch hinsichtlich der Verteilung des Profits.

Wesentlich kontroverser verlief schliesslich die Konstruktion einer Stadtidentität im Fall Berns. Ein allgemein anerkanntes Selbstbild zu finden, erwies sich als schwierig. Die Rollen als Hauptstadt eines bäuerlich geprägten Kantons, als Bundesstadt der Schweizerischen Eidgenossenschaft und als Weltstadt mit dem Sitz ausländischer Botschaften und internationaler Organisationen konkurrenzierten sich gegenseitig, sodass sich keine offizielle Selbstdarstellung herausbildete. Einigkeit gab es aber über die Bedeutung gewisser Elemente: der Topografie in der Aareschlaufe, der ursprünglich erhaltenen Stadtanlage und der in der Schweiz einzigartigen Lauben sowie der Langsamkeit als Charakteristikum der Bernerinnen und Berner. Die eigentliche Sehenswürdigkeit bot die Altstadt, während im Unterschied zu Winterthur und Luzern den neu erbauten Quartieren keine Attraktivität beigemessen wurde. Unabdingbares Mittel zur Konstruktion von Stadtidentität war die Stadtgeschichte, die aber ihrerseits Kontroversen verursachte. Die Autorin bezieht sich hier vor allem auf den umstrittenen Einfluss der Burgergemeinde. Aber auch Berns Status als Sitz der Bundesbehörden seit 1848 war ambivalent, da Bern zwar als das politische Zentrum, aber nicht als die Hauptstadt der Schweiz galt. Auch in seinem Selbstverständnis wollte Bern nie Grossstadt wie ausländische Hauptstädte werden.

In den visuellen Darstellungen war bei allen drei Städten die Einbettung in die intakte Natur wichtig, bei Winterthur in eine liebliche, hügelige Landschaft, bei Luzern wie erwähnt in die Lage am See mit der Aussicht in die herrliche Bergwelt der Alpen, die Bern ebenfalls für sich in Anspruch nahm.

Die kulturgeschichtliche Studie stützt sich auf heimatkundliche Publikationen, Festschriften, Stadtführer, Reiseberichte, Postkarten, Stadtveduten und andere Stadtansichten sowie Debatten um Stadtentwicklung und Bauvorhaben in Zeitungsartikeln und amtlichen Akten. Sie ist konsequent nach einem gleichbleibenden Schema gegliedert. Umsichtig werden bei der Analyse der Quellen alle Aspekte berücksichtigt. Die Gedankengänge werden Schritt für Schritt sorgfältig entwickelt, was einerseits der Klarheit dient, andererseits zu gewissen Wiederholungen führt. Die redaktionelle Betreuung des Buchs lässt hinsichtlich orthografischer Fehler etwas zu wünschen übrig. Die Städte um 1900 waren oft nicht das, was sie gemäss ihren Selbstbildern repräsentierten; reale wirtschaftliche und gesellschaftliche Strukturen wurden ausgeblendet oder betont positiv bewertet und beschönigend dargestellt, wenn sie nicht gänzlich ignoriert werden konnten. Laura Fasol reaktiviert mit ihrem anschaulichen mentalitätsgeschichtlichen Beitrag die Schweizer Stadtgeschichtsforschung.

Zitierweise:
Emil Erne: Rezension zu: Fasol, Laura: Stadtgestalt und Stadtgesellschaft. Identitätskonstruktionen in Winterthur, Luzern und Bern um 1900. Zürich: Chronos 2020. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 50-54.

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Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 83 Nr. 1, 2021, S. 50-54.

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